Michael Kenna

Michael Kenna fotografiert „vor dem Motiv“ wie früher die Impressionisten malten. Indem das Auge vom anhaltenden Auftauchen der Landschaft gefangen genommen wird, lehnt er das Wort „aufnehmen“ ab, um das Geben zu betonen, was sich ohne Zwang anbietet, manchmal langsam, aber sicherlich immer. „Die Arbeit des Fotografen besteht zum Teil darin, die Dinge intensiver als die meisten Leute wahrzunehmen. Er muss die Empfänglichkeit eines Kindes, das die Welt zum ersten Mal betrachtet oder die eines Reisenden, der eine exotische Gegend erkundet, in sich tragen und bewahren… Sie tragen die Fähigkeit in sich, sich zu begeistern…”, versicherte der englische Fotograf Bill Brandt (1904-1983), dessen Blick Michael Kennas Weg von Anfang an prägte. Nicht nur seine Bilder, sondern auch seine Entscheidungen als Kurator. Was Brandt gemacht hatte, musste Kenna nicht wiederholen. Der Weg war vorgezeichnet, das Ziel jedoch unbekannt. Er entscheidet, die Fotografie als unermüdlicher Reisender umzusetzen. Michael Kenna ist Landschaftsfotograf.

Die in Chaumont-sur-Loire ausgestellten Fotografien konzentrieren sich auf Bäume. Wie von Beginn an sind sie kleinformatig und schwarz-weiß. Das Spektakuläre bei Michael Kenna resultiert nie aus einem visuellen Schock, sondern aus einer Bändigung. Sehen genügt nicht, man muss in den fotografierten Raum eintauchen, ihn betrachten. „Der Baum des Künstlers ist nicht der eines Försters oder Holzfällers, sondern in den Fotografien von Kenna bleibt die Wesenheit – im botanischen Sinn – einer Weide, Eiche oder Kiefer erkennbar und wird nicht zu einer stilisierten Form. Ist er allein aufgenommen, baut sich die Landschaft und die Dynamik um ihn herum auf. In Hainen gruppiert schafft er nebelige Abstufungen von Perlgrau, komplexe Grafiken mit feinen Übergängen, visuelle Spiele mit atmosphärischen Variationen. Er fordert den Wind heraus und macht ihn sichtbar, spiegelt sich im Wasser und verbindet es mit dem Himmel, die Umrisse seines Geästs bilden einen Kontrast zum Schnee, sein Schatten verdoppelt ihn, er betont die Reize der Lichteffekte: er macht den fotografischen Raum verständlich. „Seine Präsenz lenkt den Blick und macht ihn aufmerksamer“, kommentiert Anne Biroleau, Kuratorin der Retrospektive, die Nationalbibliothek Frankreichs Michael Kenna 2009-2010 widmete.

Für den Fotografen eicht der Baum die Landschaft, die er mit allen Mitteln zu gestalten versucht. Denn die Landschaft ist nicht die Natur, sondern eine Konstruktion des Menschen, der Teil, den sein Blick umfasst. Im Gras liegend, das Objektiv auf sein Ziel gerichtet, tut Michael Kenna nichts unter Zeitdruck. „Ich mag es, meinen Baum ganz genau kennenzulernen… Ich verbringe nicht wenig Zeit damit, um ihn herumzugehen, ich versuche, ihn kennenzulernen. Eigentlich ist es so, als würde ich mit ihm reden.“ Die Belichtungszeit dauert lange. Mehrere Minuten, sogar mehrere Stunden lang kann die Kamera auf das Jenseits des Motivs gerichtet bleiben, wodurch mehr das Wesen des Motivs als sein Aussehen erfasst wird. Wäre Kenna im 19. Jahrhundert geboren worden, hätte er wahrscheinlich den Äther erforschen wollen, diese Seele der Welt, wie Pythagoras dachte. Außerdem verleiht er seinen Bildern eine surreale Atmosphäre, die jeden Baum in einen Genius Loci verwandeln kann. Jede Fotografie zeugt von einer unvergesslichen Begegnung und dem Versprechen des Wiedersehens. Denn Michael Kenna kommt oft gerne zu „seinem“ Baum zurück.

Gespenstisch im Mondschein, abstrakt in der unermesslichen Weite des Schnees, majestätisch mitten im Nebel…, im Morgengrauen oder bei Tagesanbruch, in der Abenddämmerung oder wenn gerade die Nacht hereingebrochen ist fotografiert, füllt dieses Wesen aus Saft und Ästen den Rahmen auf seine eigene Weise aus. Manchmal beschränkt sich Kenna auf eine seiner Eigenschaften, manchmal setzt er das große Ganze in Szene. Die außergewöhnliche Beherrschung des Lichts macht aus jedem Bild eine Fiktion, aus jedem Baum den Vorboten eines Epos der Lebendigkeit. Im Werk von Michael Kenna verdichtet sich die Zeit und die Erinnerung setzt sich ab wie ein Stoff. Das Pittoreske der Szene verblasst vor der Schönheit und der Gewalt der Natur. Wenn Michael Kenna sich dieser als Fotograf annähert, so fördert er als Maler einen Teil der Realität zutage. Seine Himmel, seine Wasserflächen, seine Nebel, seine Berge... stehen in der Tradition der englischen Ästhetik. Es ist unmöglich, nicht an Constable und Turner zu denken oder sich an die Schriften von Ruskin zu erinnern. Am überraschendsten ist vielleicht seine Art und Weise, ein natürliches Element nicht wie einen unveränderlichen und leblosen Gegenstand, sondern als hervorstechendes Zeichen darzustellen, das eine Geschichte, eine Vergangenheit und eine Zukunft in sich trägt. Vielleicht eine Art und Weise, deutlich zu machen, dass die Kunst in der Natur genauso existiert wie in der Hand der Menschen.

BIOGRAPHISCHE ANGABEN

Michael Kenna ist international anerkannter Landschaftsfotograf. Er ist 1953 in Widnes, einer kleinen Industriestadt in Nordengland geboren und interessiert sich bereits in sehr jungen Jahren für die Kunst. 1972 schreibt er sich an der Banbury School of Art ein und studiert dann Fotografie (Werbung, Mode, Reportage) am London College of Printing, wo er 1976 seinen Abschluss macht. Ein Jahr zuvor stellt der Besuch der Sammelausstellung The Land im Victoria and Albert Museum in London eine wichtige Etappe seines Werdeganges dar. Die Auswahl der Werke des Fotojournalisten Bill Brandt ist für den jungen Fotografen eine Offenbarung. Neben den großen Klassikern wie Eugène Atget, Ansel Adams, Aaron Siskind, Alfred Stieglitz, Paul Strand werden nicht nur junge Künstler der damaligen Zeit wie Mario Giacomelli, Gianni Berengo Gardin oder Emmet Gowin gezeigt, sondern auch anonyme Abzüge von wissenschaftlichen oder dokumentarischen Bildern, die den Blick auf die Landschaft erweitern. Ab 1977 lässt sich Kenna in den USA nieder, wo er seine stark von Brandt inspirierte, persönliche Arbeit zu diesem Thema verfolgt, aber auch Auftragsarbeiten anfertigt. Mehr als 10 Jahre lang assistiert er der renommierten und sehr anspruchsvollen Fotografin Ruth Bernhard (1905-2006) bei der Realisierung ihrer Aufnahmen. Von ihr lernt er sehr viel.

Abseits vorherrschender Modeerscheinungen und Strömungen schuf Michael Kenna eine unvergleichliche Sammlung, die der Darstellung der Landschaft gewidmet ist, einer Landschaft, die den Blick durch die Wahl des kleinen Formats beherrscht. Als Erbe der englischen ästhetischen und fotografischen Tradition, entwickelt er seit nahezu 50 Jahren ein Werk der Analogfotografie in Schwarz-Weiß, dessen Abzüge er selbst anfertigt. Seine Fotografien, die oft im Morgengrauen oder mitten in der Nacht gemacht werden, konzentrieren sich vorwiegend auf die Interaktion natürlicher Landschaften und der Landschaften, in denen der Mensch seine Spuren hinterlassen hat. Dank sehr langer Belichtungszeiten, die bis zu zehn Stunden dauern können, enthüllen sie dem bloßen Auge oft ungeahnte Details. Der Reiseliebhaber und Fotograf liebt es, zu gehen und wiederzukommen. Seine beiden meist fotografierten Länder sind Japan und Frankreich.

Das Werk Michael Kennas wird auf der ganzen Welt ausgestellt und veröffentlicht: nahezu 500 Einzelausstellungen und mehr als 400 Sammelausstellungen wurden ihm gewidmet; 75 Werke und Kataloge veröffentlicht; 110 Museen beherbergen Fotografien von Michael Kenna in ihrer Dauerausstellung. In Frankreich hat ihm die Nationalbibliothek 2009 eine große Retrospektive gewidmet.

2014 präsentierte das Musée Carnavalet eine Auswahl Pariser Landschaften. 2021 stellte das Musée de la Résistance nationale in Champigny-sur-Marne 82 vorwiegend unveröffentlichte Aufnahmen einer Arbeit vor, die er 15 Jahre zuvor begonnen hatte: die Nazi-Lager zu fotografieren. Durch über 7 000 Fotografien von mehr als 20 Lagern und Tötungszentren schuf Michael Kenna ein gerechtes und bewegendes Projekt, über das lange Zeit nur sein engstes Umfeld auf dem Laufenden war. Im Jahr 2000 wählte er 301 Fotografien aus, von denen er Abzüge anfertigte. Diese wurden im Laufe verschiedener Ausstellungen, Konferenzen und Veröffentlichungen gezeigt. 2001 spendete Michael Kenna sie Frankreich. Zwischen 2011 und 2021 schenkte er, seiner Logik folgend, dem Musée de la Résistance nationale die gesamten Matrizen dieser Arbeit, die er entschieden hatte, nie zu vermarkten.

Michael Kenna wird in Frankreich von der Galerie Camera Obscura/Paris vertreten.