04. Anne und Patrick Poirier

Dieser aus schwarzem Granit hergestellte und gegenüber der Loire unterhalb der Böschung stehende Sessel lädt zur Stille ein, zur Meditation und Betrachtung. An der Rückenlehne verleiht ihm die vergoldete Gravur eines ellipsenförmigen Labyrinths, das an ein Gehirn erinnert, eine gewisse Heiligkeit. Als Bruchstück des in der Erde vergrabenen, auftauchenden Reliktes erinnert er an einen fiktiven Baustil, der von Anne und Patrick Poirier aktualisiert wurde. Das sich über den Status der Architekten und Archäologen hinwegsetzende Künstlerpaar markiert mit diesem Steinblock den Ort, an dem die erste Kirche von Chaumont hätte erbaut werden können.

Die Kapelle von Anne und Patrick Poirier hat den Charakter eines von den Archäologen wiederentdeckten Baustils. „Im Zuge ihrer Lektüren wurde die Aufmerksamkeit der Archäologen von einem weit vom Schoss entfernten Ort des Parks angezogen, auf den sich ihre Suche konzentrierte: eine kleine Lichtung inmitten von wild wachsenden Linden in einem halb brach liegenden Gebiet der Domaine. Beim Vordringen in das formlose Unterholz waren sicher große, verstreut auf den Boden gefallene und nach einem genauen Muster eingestürzte Bruchstücke weißen Gesteins zu erkennen. Dies entsprach der Anspielung im Archiv zum Vorhandensein eines kleinen Bauwerks (Kapelle? Oratorium? Eremitage?), das bis dahin unauffindbar war. Trotz des strengen und nebligen Winters des Jahres 2010 wurden Erdarbeiten durchgeführt, und 8 große, 3 Meter hohe, 1,40 Meter breite und 20 cm dicke Stelen wurden von Erde und Efeu befreit, die sie beinahe vollständig verbargen. Auf der gereinigten, sichtbaren Fläche konnte man eine Reihe von Wörtern lesen, die aneinandergereiht offenbar einen Satz bildeten. Inmitten dieser Überreste entdeckten sie weiterhin ein großes Gehirn aus Stein, das mit einer dünnen Goldschicht bedeckt war. Die Archäologen beschlossen, die Stelen an der Stelle, an der sie eingestürzt waren, wieder senkrecht aufzustellen, was zu einer Art kleinem Bauwerk (Kirchenverwaltung) führte, das in den Texten den Namen CAPELLA trug. Etwa zehn Meter entfernt legten sie einen riesigen Monolith-Block aus Marmor frei, der von Lianen und Moos bewachsen und tief unter Efeu verborgen war. Er trug eine kaum leserliche Inschrift in hohen antiken Buchstaben mit den Worten: OCVLVS HISTORIAE. Nach der Reinigung des Blocks wurden sie mit der Entdeckung eines riesigen Auges überrascht, das sie mit einem Blick anschaute, der die Zeit herausfordert, ein Relikt eines Kultes, einer Kultur, einer vergessenen Erinnerung. Der Blick einer gigantischen, zerbrochenen Statue. Eine weitere Eitelkeit?“

Beim Freilegen des als „Glacière“ (Eishaus) bezeichneten hohlen Bauwerks entdeckten die Archäologen das andere riesige Auge aus weißem Marmor, einem „Arabescato“ (italienischer Marmor), das wie vom Himmel herabgeworfen am Boden des riesigen Trichters ruhte. Ein Auge, das in den Raum, den Himmel, die Zeit blickt, ein Auge der Erinnerung, das in der Lage ist, die Unendlichkeit von Himmel, Zeit und Raum zu erkennen… Man stelle sich das Erstaunen im Frühling vor, als der am Boden des Kegels angehäufte Schnee begann flüssig zu werden und langsam diesen weißen Blick freilegte, der den Himmel, den vorbeikommenden Spaziergänger fixiert… Dieses Auge der Erinnerung und des Vergessens, das Auge der Geschichte, der gewaltigen Kraft der Geschichte, mit unglaublicher Kraft an diese Stelle geworfen...

Anne Poirier wurde am 31. März 1941 in Marseille geboren und Patrick Poirier am 5. Mai 1942 in Nantes. Heute leben sie in Lourmarin im Departement Vaucluse. Nach Kunstgewerbestudien in Paris waren sie von 1967 bis 1972 in der Villa Medicis zu Gast. Von Beginn ihres Aufenthalts an beschlossen sie, zusammenzuarbeiten und ihre Ideen und ihre Sensibilität gemeinsam zu nutzen.

Anne und Patrick Poirier sind regelrechte Reisende der Erinnerung, die sie für die Grundlage des Verständnisses zwischen den Lebewesen und den Gesellschaften halten. Sie erforschen Städte und die Reste der alten Zivilisationen der Griechen, Römer, Maya bzw. Inder und verhelfen ihnen in Modellen und Rekonstruktionen in verkleinertem Maßstab zu neuem Leben. Sie sind gleichzeitig Bildhauer, Architekten und Archäologen. Ihr Interesse gilt dem Seelenleben, dessen Strukturen sie unaufhörlich durch verschiedene Metaphern verstehen zu versuchen. 

Sie lassen sich von den Erzählungen der Mythologie inspirieren und entwickeln zu zweit durch die Erforschung reeller oder imaginärer Städte ein Werk, das eine Metapher der Zeit und Erinnerung darstellt. Vergangenheit und Zukunft sind dort eng miteinander verknüpft und zeigen uns die Zerbrechlichkeit der Kulturen und Lebewesen.