J. Fabienne Verdier
"Jeux d’eau au jardin, 2021"
Genährt von den lebendigen Quellen der traditionellen chinesischen Malerei und einem Blick, der für die leisen Schwingungen der Welt stark empfänglich ist, erforscht die Malerei, die Fabienne Verdier seit den späten 1980er Jahren entwickelt hat, unaufhörlich die Welt der elementaren Formen. Sie offenbart uns die vielfältigen, ungeahnten und doch so offensichtlichen Beziehungen zwischen dem Materiellen und dem Spirituellen, dem Einzigartigen und dem Universellen, dem Inneren und der bewohnten Natur. Ihre Gemälde, reiflich durchdachte Geistesblitze, sind ebenso „Gedankenbilder“ wie verdichtete Splitter des Wahrnehmbaren. Eine akribische Beobachtung, ein ungemein aufmerksames Lauschen, ein Innehalten, bei dem jeder Weltenmoment mit einem einzigartigen Klang vibriert, prägen den Verlauf eines jeden Bildes, dessen Schlichtheit erst nach einer langen Askese erreichbar ist. Um die kosmische Einheit wahrzunehmen, bedarf es der Entäußerung; als Frucht der Entäußerung der Künstlerin lädt jedes Werk, das den Betrachter zur Kontemplation auffordert, dazu ein, sich auf einen solchen Pfad der Veränderung des Blicks und des eigenen Selbst zu begeben.
Das Gemälde, das im Domaine de Chaumont-sur-Loire zu sehen ist, hätte auch den Titel „Der Sprung der Kröte“ tragen können. Ein Titel, der verworfen wurde, weil das Werk im ersten Moment als belanglos wahrgenommen werden könnte, der allerdings bei genauerer Betrachtung Aufschluss über das Gesehene gibt. Als eine Vielzahl von Kreisen, die in schwindelerregenden Wirbeln verschlungen sind, trägt das Gemälde in der Tat den transformierten Abdruck eines solchen Ereignisses, aus dem es hervorgegangen ist und an das es nicht nur erinnert, sondern vielmehr als Zeichen des Übergangs in die kosmische Dimension einer universellen Form zu verstehen ist. Vortex, ein Begriff aus dem Lateinischen für „Wasserwirbel“, der in dem von Alain Rey und Fabienne Verdier gemeinsam durchgeführten „Sprachexperiment“ zum 50-jährigen Jubiläum des Petit Robert im Jahr 2017 Wort „Stimme“ angenähert wurde. „Eine Feuerhelix auf dem Blau der Stille, die menschliche Stimme. Eine zarte Spur weist uns den Weg: Atem, Seufzer, Hauch. [...] Ursprung des Gesangs, der Sprache, Diener des Gedankens, Spender von Emotionen, Verbündeter und Gegner der Vernunft – der stimmliche Klang ist ein Tauchgang, ein Vortex, ein Wirbel des Seins”, schrieb der im Oktober 2020 verstorbene herausragende Linguist.
Was sagen uns diese Wirbel? Welche Art von Weg eröffnet oder benennt ihre Stimme? Der Fluss, um den es ursprünglich geht, fließt in der Nähe des Atelierhauses der Künstlerin in Hédouville im Vexin, Val-d’Oise. Hier, im Saal des Agnès-Varda-Hofs nahe der Loire, geben diese Wirbel ihre Antworten in Form von Gemälden auf jene, die unterhalb des Domaine brausen. Von der Brücke aus, die das Ufer von Onzain mit dem von Chaumont verbindet, kann man ähnliche Strudel sehen, die von an der Wasseroberfläche zutage tretenden Erdklumpen und Steinen geformt werden. Ihre Wirbel bereiten leichten Booten auf Rafting-Touren großes Vergnügen. Dem Betrachter scheinen sie zuzuflüstern, dass „die unbeweglichen Formen nicht ruhen, sie bewegen sich, sie ‘reisen’ im Geiste [...] und umfassen jegliche Form und die Formlosigkeit selbst, die Welt der Zeichen, dieser idealen Materialitäten, dieser konkreten Idealitäten, die es verstehen, Bedeutung entstehen, projizieren, leben und wandern zu lassen“, wie Alain Rey es formuliert (Le Voyage des formes: l’art, matière et magie, 2014).
„Ich spüre, dass es eine gemeinsame Topografie zwischen der Bewegung im Inneren des menschlichen Körpers und des Weltenkörpers, der Fließfähigkeit des Blutes und der des Wassers von Wasserfällen oder Flüssen gibt. [...] Ich appelliere an das Auge des Betrachters, sich wie ich auf der Leinwand fortzubewegen, und ich würde mir wünschen, dass er für die bewegliche Energie, die ich einzufangen versuche, empfänglich ist, bis hin zur Aufforderung, den Rahmen des Bildes zu verlassen! Vielleicht ist das der Grund, warum ich die Bilder zerstöre, die mir nicht richtig erscheinen und die den anderen nicht genügend Raum zum Atmen lassen. Ich behalte nur das, was öffnet, was leibhaftig ist”, sagt Fabienne Verdier (La Croix L’Hebdo, 30. Juni 2020). Der Sprung einer Kröte ist uns keineswegs fremd, sondern kann ein Fenster zu unserer Seele öffnen. Der Wirbel, den er erzeugt, bietet Gelegenheit zu einer metaphysischen und poetischen Erfahrung.
„Man möge die Eigentümlichkeit betrachten, die den Wirbel definiert“, empfiehlt der Philosoph Giorgio Agamben: „Es handelt sich um eine Form, die sich vom Fluss des Wassers getrennt hat, dessen Teil sie war und zu dem sie in gewisser Weise immer noch gehört; eine autonome, in sich geschlossene Region, die ihren eigenen Gesetzen folgt; und doch ist sie eng mit dem Ganzen verbunden, in das sie eintaucht, sie besteht aus derselben Materie, die in ständigem Austausch mit der flüssigen Masse steht, die sie umgibt. Ein eigenständiges Wesen, und doch gibt es keinen Tropfen, der nicht zu ihm gehört, seine Identität ist absolut immateriell“. Nach Auffassung des Denkers kann uns dieses Naturphänomen Auskunft über uns selbst geben, uns helfen, uns selbst zu begreifen und zu positionieren: „Das Subjekt ist nicht als Substanz zu begreifen, sondern als ein Wirbel im Fluss des Seins. Es hat keine andere Substanz als die des einzigartigen Seins, aber im Verhältnis zu diesem besitzt es eine Gestalt, eine Stofflichkeit und eine Bewegung, die nur ihm eigen sind.” (Le feu et le récit, 2014). Von Echo zu Echo führen uns diese Wirbel im Wasser und in der Malerei zu unserem ganz eigenen Platz im lebendigen Weltengewebe. Sie bilden einen Chor mit den „Goldenen Versen“ von Gérard de Nerval: „Alles ist fühlbar! – Und alles an deinem Wesen ist mächtig!“ (Les Chimères, 1854).
BIOGRAPHISCHE ANGABEN
Fabienne Verdier wurde 1962 in Frankreich geboren. Seit ihrem Studium an der Kunsthochschule ist ihr künstlerischer Werdegang von Konfrontationen mit Denksystemen aus verschiedenen Kulturen und Epochen geprägt.
Ihr Schaffensprozess speist sich aus der Hybridisierung von Wissen und manifestiert sich durch technische Erfindungen (riesige Pinsel, Glasurlegierungen, filmische Skizzen). Nach ihrem Studium an der Kunsthochschule lässt sie sich von 1983 bis 1992 in China an der Seite großer Meister ausbilden. Anschließend vertieft sie sich mehrere Jahre in die Werke abstrakt-expressionistischer Maler und realisiert eine Reihe von Bildern für die H. Looser-Stiftung in Zürich. Von 2009 bis 2013 setzt sie sich mit Gemälden der flämischen Primitiven (Van Eyck, Memling, Van der Weyden) auseinander und gestaltet eine Ausstellung mit dem Groeninge-Museum in Brügge. 2014 richtet sie ein Atelier in der Juilliard School in New York ein, die zum ersten Mal ein Forschungslabor für Schall- und Bildwellen zulässt. Von 2015 bis 2017 arbeitet sie mit Alain Rey für die 50-Jahres-Ausgabe des Petit Robert zusammen und fertigt 22 Gemälde an, die die kreative Energie der Sprache zelebrieren. 2019 widmet ihr das Musée Granet in Aix-en-Provence eine retrospektive Ausstellung, die den Weg der Künstlerin von ihrer Rückkehr aus China bis hin zu ihren jüngsten Werken, die in den Steinbrüchen von Bibémus mit Blick auf den Berg Sainte-Victoire entstanden sind, nachzeichnet. Im selben Jahr wird nach der Fertigstellung einer Serie von zwölf Werken eines ihrer Gemälde von der französischen Post für den Druck einer Briefmarke ausgewählt.
Fabienne Verdier wird von der Galerie Lelong & Co. (Paris und New-York) vertreten.